Von der Wichtigkeit des Zuhörens

Be Ya war ein guter Zitherspieler. Dschung Dsï Ki war ein guter Zuhörer. Wenn Be Ya die Zither schlug und die Ersteigung eines hohen Berges im Sinne hatte, so sprach Dschung Dsï Ki: »Wundervoll, so steil und kühn, wie der Große Berg!« Hatte er fließendes Wasser im Sinne, so sprach Dschung Dsï Ki: »Vortrefflich, so wogend und wallend wie Fluß und Strom.« Was Be Ya dachte, erriet Dschung Dsï Ki mit Sicherheit.

Als sie einst im Schatten des Großen Berges wanderten, wurden sie plötzlich von einem heftigen Regen überrascht und machten halt unter einem überhängenden Felsen. Be Ya war trübselig gestimmt, nahm seine Zither und spielte. Erst spielte er eine Weise von tropfendem Regen, dann schuf er den Laut von stürzenden Bergen. Welche Melodie er immer spielte, Dschung Dsï Ki erriet sofort seine Stimmung.

Da legte Be Ya die Zither weg und sagte seufzend: »Vortrefflich, vortrefflich hörst du, was ich im Sinne habe. Die Bilder, die du ersinnst, sie gleichen meiner Stimmung. Unmöglich ist es mir, dir mit meinen Tönen zu entgehen.«

(Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund, Übersetzung: Richard Wilhelm)

Die berühmte chinesische Geschichte gibt es in mehreren Varianten. In einer anderen stirbt der Zuhörer, worauf der Zitherspieler die Saiten seines Instruments zerschneidet und nie wieder spielt. Die Geschichte zeigt uns, dass Musik nicht weniger von guten Zuhörern als von guten Musikern abhängig ist. Viele Hörer von Musik, die nicht selbst ein Instrument spielen oder über eine gewisse theoretische Vorbildung verfügen, sind der Meinung, sie könnten Musik nur oberflächlich oder unzulänglich verstehen. Meiner Meinung nach ist das ein Irrtum, denn selbst ein jahrelanges Training in Gehörbildung scheint so manchen professionellen Musiker nicht in die Lage zu versetzen, Musik differenziert zu beschreiben oder mehr über sie auszusagen als dass sie gefällt oder eben nicht – wie oft habe ich Kolleginnen und Kollegen schon so manches Stück Musik auf solche Weise beurteilen hören müssen!

Aus der Überzeugung heraus, dass auch Leute, die Musik einfach nur gerne hören, kompetente Kenner guter Musik werden können – ohne Vorbildung und musiktheoretisches Wissen – ist die Idee zu meinem (aktuell noch in Entstehung befindlichen) Buch “Musik hörend verstehen” entstanden. Einige Textausschnitte und die meisten Übungen dazu sollen hier versammelt werden. Vieles ist in jahrelanger Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in Theoriekursen, Hör- und Kompositionsprojekten entstanden, auch hierzu finden sich weitere Informationen auf diesen Seiten.
Ich freue mich auf zahlreiche Kommentare und Anregungen!

Nils Günther, im März 2017